Die Kunst des
Unmöglichen - The
Jewish Renaissance
Movement in Poland
(JRMiP)

Juli Carson

Politik ist so lange die Kunst des Möglichen, bis das Unmögliche möglich wird. Wer also den Gedanken nicht zu fassen vermag, das Unmögliche könne möglich werden, wird niemals 'denken' können.
Charles Esche (1)

Die Gräber der anderen sind es nämlich, die die Überlebenden in Form von Phantomen heimsuchen. Das Gespenst des Volksglaubens ist also nichts anderes als die Vergegenständlichung einer im Unbewussten wirkenden Metapher: das Begräbnis eines unaussprechlichen Vorfalls 'im Objekt'.
Nicolas Abraham (2)            

                                                                                                                                                                                                      

Vorläufer

 

Als der Erste Internationale Kongress der Jewish Renaissance Movement in Poland (JRMiP) [Bewegung für eine Jüdische Renaissance in Polen] im Theater Hebbel am Ufer in Berlin seine Beratungen aufnahm, stellte das Ansinnen eines Teilnehmers gleich zu Beginn das ganze Projekt infrage. Das Thema des Tages lautete: Wie muss die EU sich ändern, um andere willkommen zu heißen?, weshalb ein Delegierter verlangte, die JRMiP solle ‘die Instrumentalisierung der Politik für Zwecke der Kunst kritisieren’. Die Annahme dieses Antrags hätte dem Kongress die Existenzberechtigung entzogen. Höchstwahrscheinlich war dieser Antrag eine Reaktion auf die partizipativen Agitprop-Aktionen im Verlauf der gleichzeitig stattfindenden 7. Berlin Biennale, die öffentliche Auseinandersetzungen und in deren Folge gewisse Ermüdungserscheinungen hervorgerufen hatten. (3)

Allerdings hatte sich der Delegierte, indem er der Einladung der JRMiP gefolgt war, dazu bereit erklärt, ein aktiver Teilnehmer der Biennale zu sein, denn der Kongress verstand sich als Yael Bartanas Beitrag zu dieser Kunstausstellung. Der Antrag, die JRMiP solle ‘die Instrumentalisierung der Politik für Zwecke der Kunst kritisieren’, war insofern selbstreflexiv, als der Delegierte die Legitimität des Kongresses, der ihm den Anlass wie die Möglichkeit gab, seinen Antrag zu stellen, zugleich voraussetzte und negierte. (4) Mit unseren Überlegungen über Bartanas Projekt begeben wir uns also auf ein philosophisch und performativ höchst unsicheres Terrain, denn die JRMiP ist ein durch und durch reflexives Kunstwerk. Ihre allgegenwärtigen Widersprüche, in denen sich komplexe Fantasien und Sehnsüchte widerspiegeln, verleihen der Bewegung den Charakter einer Aporie als einer nicht zu beseitigenden, aber produktiven Unsicherheit. Die JRMiP ist sowohl real als auch unfassbar, sie ist zugleich ein Projekt über politisches Handeln wie auch selbst Teil dieses Handelns. Insofern ist sie ein unmögliches Kunstwerk, ein Akt essenzieller Dekonstruktion, der dem grenzenlosen Reich der Rhetorik entspringt, das die dialektische Operation von Imagination und Pragmatismus an ihren Rändern erschafft. Der nun folgende Bericht über den Ersten Kongress der JRMiP versteht sich als theoretisches Gerüst, das die historischen Gespenster sichtbar macht, die im Mechanismus der Bewegung spuken. Zuvor müssen wir uns jedoch die imaginäre Ausgangssituation der JRMiP vergegenwärtigen.

 

Verweilen beim Realen

 

Mit ihrem Aufruf an 3,3 Millionen Jüdinnen und Juden, nach Polen zurückzukehren, wurzelt die JRMiP – 2007 von Bartana gegründet – im Imaginären. In ihrem Manifest heißt es: ‘Wir wollen zurückkehren! Polen ist das Land unserer Sehnsucht, das Land unserer Väter und Vorväter. Im Wachen wie in unseren Träumen ist Polen uns stets gegenwärtig.’ (5) Daraus entstand Bartanas Filmtrilogie ...and Europe will be stunned, die die JRMiP und auch die Inszenierung des Kongresses ins Leben rief. Die Trilogie begann mit Sławomir Sierakowskis Aufruf in Mary Koszmary (Nightmares) (2007), darauf folgte in Mur i wieża (Wall and Tower) (2009) die Errichtung einer ersten Siedlung in einem öffentlichen Park in Polen und schließlich das Begräbnis des ermordeten Führers der Bewegung in Zamach (Assassination) (2011).

Ins Leben gerufen mit dieser dreiteiligen filmischen Imagination, wird die JRMiP durch jene Ideologien definiert, die sie zugleich hinterfragt, Ideologien, die der imaginären Identität ihrer Subjekte zugrunde liegen. Mit ‘Subjekt’ meine ich sowohl die TeilnehmerInnen wie die ZuschauerInnen der JRMiP, jene Subjekte, die zwischen der realen und der fiktiven Natur der Bewegung gefangen sind; ‘real’ insofern, als die JRMiP aus freiwilligen Mitwirkenden besteht, die an einem konkreten Experiment teilnehmen; ‘fiktiv’ insofern, als das Experiment darin besteht, sich eine andere Realität vorzustellen, und nicht, sie herbeizuführen. Die JRMiP bezieht sich deshalb in erster Linie auf das Subjekt, das vom heterogenen ideologischen Aufbau der Filme sowohl als BetrachterIn als auch als Mitwirkende/r in Verwirrung gestürzt wird. Die Filme betreiben nämlich eine exzessive Vermengung von Repräsentanzen, die üblicherweise als konfligierend wahrgenommen werden: europäischer Antisemitismus, Kolonialismus, Sozialismus und Zionismus. Infolgedessen wird das Subjekt immer wieder Etwas – einen

Signifikanten – an einem Ort wahrnehmen, an dem es nichts zu suchen hat. Denken Sie an das arische Erscheinungsbild des Führers der JRMiP in Mary Koszmary oder die Siedlung in Mur i wieża, die architektonisch an ein Konzentrationslager erinnert. Daraus folgt die Wiederkehr des Verdrängten exakt innerhalb der imaginierten Identifikation des Subjekts, einer unendlich gebrochenen Identifikation, die keine einzige eindeutige (Re-) Präsentanz mehr enthält. Im Gegenteil, der unterdrückte Signifikant, der diesen vielfältigen, gebrochenen Identifikationen gegenübertritt, repräsentiert einen Mangel, sowohl in der Konstitution wie in der Wahrnehmung des Subjekts – einen Mangel insofern, als das Subjekt jenseits seiner grenzenlos verschwommenen Repräsentanz kein ‘vollständiges’ Selbst errichten kann. Daraus resultiert eine mise en abyme, die endlose Wiederholung in sich selbst auf der imaginären Bühne der JRMiP.

An dieser Stelle kommt Jacques Lacans Begriff des Realen ins Spiel. Das Reale, wie Lacan es in Seminar XI konzipierte, beruht auf einer Neuinterpretation des Freud’schen Begriffs der Vorstellungsrepräsentanz, wonach eine Repräsentanz einen ursprünglichen oder strukturellen Mangel kompensiert und nicht etwa im Wortsinn der Welt ein Objekt ‘zurückgibt’. Denn ‘hinter’ jeder Repräsentanz existieren immer (bereits) weitere Repräsentanzen. Darauf beruht Lacans berühmtes Axiom über den tautologischen Zirkel der Repräsentation: Ein Signifikant repräsentiert ein Subjekt für einen anderen Signifikanten. Alenka Zupančič’ einleuchtender Erläuterung zufolge meint Lacans Begriff der Vorstellungsrepräsentanz ‘nicht etwa ›die Vorstellung von einer Vorstellung‹ oder den Zustand einer Situation, sondern die ›Vorstellung innerhalb einer Vorstellung‹ oder einen Zustand innerhalb einer Situation’. So verstanden ist Repräsentanz nicht endlich. Vielmehr ist sie für das Subjekt ‘unendlich und ihrem Wesen nach nicht umfassend (oder nicht schlüssig)’, sie ist ‘eine wandernde Überschussrepräsentanz ihrer selbst’. Dies meint Lacan mit dem Begriff des Realen – es entstammt ‘dem Riss innerhalb der Repräsentanz, der ihr innewohnenden Inkonsistenz’. Es existiert nicht neben oder außerhalb der Repräsentanz, wie traditionelle Definitionen des Realen behaupten. (6)

Der Lacan’sche Begriff der Vorstellungsrepräsentanz – einer Vorstellung innerhalb der Vorstellung, eines Zustandes innerhalb einer Situation – verhilft uns zu einem Verständnis der JRMiP. Mehr noch, diese Wiederholungen innerhalb ihrer selbst, diese mise en abyme, dekonstruieren das Subjekt bis zur Hyperpolitisierung, und zwar auf den ungewöhnlichsten Wegen und mithilfe der ungewöhnlichsten Codes.

 

Eine imaginäre Bühne

 

Nach Aussage der OrganisatorInnen gab ein Brief, der nach seiner Ermordung bei ihrem Führer Sławomir Sierakowski gefunden wurde, den Anstoß zur Veranstaltung des Ersten Kongresses der JRMiP. Ein Auszug daraus lautet:

An meine FreundInnen und KameradInnen!
Ich spüre, dass ich vielleicht schon bald fort sein werde, aber ich weiß, dass es euch niemals an Kraft und Fantasie fehlen wird, die Welt zu verändern ... Ich hatte einen Traum, wie sich Polen verändern sollte. Doch wir brauchen viele Träume und Fantasien, um Europa und den Nahen Osten zu ändern. Ich verspreche euch, dass diese Veränderungen groß und schwer zu bewerkstelligen sein werden. Deshalb möchte ich, dass ihr alle gemeinsam darüber nachdenkt. Streitet, debattiert und findet heraus, was unserer Sache am besten dient. Der Sache der Jewish Renaissance Movement in Poland! (7)

Durch Sierakowskis prophetische Worte werden wir erneut mit einem Paradox konfrontiert: dem Aufruf an internationale Delegierte – ausgelöst durch den imaginären Brief eines imaginären Führers –, an einer realen öffentlichen Debatte teilzunehmen. Zugegeben, vielen BerlinerInnen erschien das unlogisch, und im Laufe der drei Tage fragten sie: ‘Ist das real?’ Wie auch immer, die performative Dekonstruktion des Gegensatzes von Kunst und Politik sowie, in größerem Rahmen, von Fiktion und Politik kann nach Jacques Derrida hyperpolitisch sein, denn die heutige europäische Fiktion (d. h. Literatur und Theater) ist das Ergebnis einer historischen ‘Revolution in Recht und Politik: der prinzipiellen Erlaubnis, dass alles öffentlich gesagt werden darf’. Als Konsequenz daraus ‘hat Literatur im Prinzip das Recht, alles zu sagen, was sie will, und es ist der große Vorteil der Literatur, dass die Ausübung dieses Rechts zugleich politisch, demokratisch, philosophisch und philologisch ist, in dem Maße, als Literatur es ermöglicht, Fragen zu stellen, die in philosophischen Kontexten unterdrückt werden’. (8) Von diesem dekonstruktiven Geist getragen, versammelte sich die JRMiP in Berlin, ‘um zum ersten Mal kollektiv eine neue Zukunft zu imaginieren und über deren Agenda abzustimmen’. (9)

So komplex die Konzeption des Kongresses auch war, das Auswahlverfahren für die Delegierten war überaus gradlinig. Der Think Tank der JRMiP versandte eine Aufforderung zur Teilnahme an ExpertInnen der realen Welt – PolitikerInnen, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und KuratorInnen. Wohlgemerkt, die potenziellen Delegierten wurden nicht etwa als SchauspielerInnen eingeladen, sie sollten vielmehr als DarstellerInnen ihrer selbst auf der imaginären Weltbühne des Kongresses mitspielen. Diejenigen, die zusagten, wurden aufgefordert, Anträge zu stellen, die auf die Fragen Bezug nahmen, mit denen sich der Kongress an den drei Tagen befassen sollte: Wie muss die EU sich ändern, um andere willkommen zu heißen? Wie muss Polen sich als Teil einer neu gestalteten EU ändern? Wie muss Israel sich ändern, um ein Teil des Nahen Ostens zu werden? Aber ich muss noch einmal von vorn anfangen, denn an dieser Stelle wird die Situation psychoanalytisch etwas komplizierter.

Indem er sich diese Fragen stellte, war der Kongress von Anfang an durch das ödipale Dreieck strukturiert. So wurde am ersten Tag der väterliche Blick der EU auf die Anderen gerichtet; am zweiten Tag der mütterliche Blick Polens auf die ‘Judenfrage’; am letzten Tag schließlich wurden beide elterlichen Blicke in Zweifel gezogen, als die Zukunft des europäischen Abkömmlings – des israelischen Staats – auf den Tisch kam. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf das ödipale Dreieck zu sprechen komme, dann im Sinne einer dynamischen Operationalisierung dekonstruktivistischer Subjektivität und nicht als statisches Narrativ von Machtpositionen im wörtlichen Sinn. Wie Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis gezeigt haben, ist der Ödipuskomplex in der Tat ein ‘Organismus ineinandergreifender, sowohl liebevoller als auch feindseliger

Erwartungen des Kindes an seine Eltern’. Nach Lacans Interpretation der Dynamik dieses Dreiecks ist dabei keine der drei Positionen durch ein dominierendes oder unabhängiges Selbstbewusstsein begünstigt. Im Gegenteil, jede Position wird wechselseitig auf dem Terrain der jeweils anderen definiert, und damit determiniert jedes Subjekt nachdrücklich das imaginäre Konzept, mit dem der oder die andere die eigene ‘Realität’ beschreibt. Auf diese Weise wird die Realität jedes Subjekts durch eine fiktive Regie exakt dort verortet, wo er oder sie sich tatsächlich nicht befindet. Bezogen auf den Kongress kann man analog formulieren, dass sich das Dreieck in einem Kreislauf von Blicken manifestierte, den drei Subjekte untereinander austauschen, denen man die Aufgabe gestellt hat, im Namen dreier individueller ‘Zustände’ zu sprechen. Die TeilnehmerInnen am Ersten Kongress der JRMiP nahmen dabei auf die gleiche Weise ihre Subjektpositionen ein, wie im ödipalen Dreieck die Positionen von Vater, Mutter und Kind durch Negation verliehen werden – im interaktiven Spielen dessen, was man nicht ist.

Auf dieser imaginären ödipalen Bühne wurden die ideologischen Positionen von EU, Polen und Israel, den Subjekten des Kongresses, spektakulär zum Ausdruck gebracht. Indem Bartana den DarstellerInnen allerdings eine durchdachte, dekonstruktive Plattform – im Zwischenraum von Fakten und Fiktionen – erschuf, trat Ideologie beim Kongress stets als Effekt einer nichtrepräsentierbaren Realität in Erscheinung.

 

The uncanny valley

 

Wie Louis Althusser festgestellt hat, bilden unsere Bezüge zur realen Beschaffenheit der Welt den Kern unserer ideologischen, imaginären Repräsentation der Welt. (10) Das traf auch für die imaginäre Selbstrepräsentation der Delegierten zu, die in den Anträgen zum Ausdruck kam, die sie unter den realen Bedingungen des Kongresses stellten. Einen besonders prägenden Einfluss auf die Realität der aktiven TeilnehmerInnen – der Delegierten und des Publikums – hatte zunächst einmal der Ort der Veranstaltung, das Theater. Wer das Hebbel am Ufer betrat, bekam sofort den Platz zugewiesen, der seiner jeweiligen Rolle entsprach. Die Empore war für zahlendes Publikum reserviert, unterhalb davon befand sich das Filmteam, das die Debatte des Kongresses aufzeichnete. Im Zuschauerraum stellten die Delegierten ihre Anträge, die dann von den TeilnehmerInnen debattiert und abgestimmt wurden. Hinter dem runden Tisch auf dem Proszenium war eine Großleinwand angebracht worden, auf die ein Livemitschnitt der Verhandlungen projiziert wurde.

Alles dies konstituierte den Kongress im Wortsinn als Bühne eines klassischen ‘Happenings’. Diesem Zweck dienten sehr detaillierte Strukturmaßnahmen, durch die Bartana die Räumlichkeiten zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfasste – die übliche Abgrenzung zwischen Publikum und Mitwirkenden sollte aufgehoben werden. Als Erstes wurde die Bestuhlung aus dem Zuschauerraum entfernt. (11) Stattdessen wurde dort ein Podium (oder eine Plattform) von gleicher Höhe wie die eigentliche Bühne errichtet, damit beide Bereiche sich auf derselben Ebene befanden; hoch darüber und im Rücken der Delegierten die Filmleinwand. Auf der Empore, wo das ‘richtige’ Publikum saß, wurden ZuschauerInnen dazu ermutigt, sich in die Verhandlungen des Kongresses einzumischen, was gelegentlich geschah. (12)  Das Filmteam, das sich, für das Publikum unsichtbar, unterhalb der Empore befand, zeichnete still alles auf, wodurch der Kongress eine wahrhaft unheimliche Note bekam. Denn in Wirklichkeit bot der Kongress ebenso sehr einen Filmset für Bartanas Team, wie das Team den Kongress zugleich als realen Event dokumentierte. Kurz und gut, der Kongress wurde nicht etwa auf Film repräsentiert, wie das bei solchen Events sonst der Fall ist, sondern Kongress und Filmteam spiegelten sich gegenseitig wie ein Chiasmus oder eine Wechselwirkung.

Die Liveübertragung des Events auf der hoch oben angebrachten Leinwand machte die Abläufe für die sofortige Analyse zugänglich und war dadurch der wichtigste ausgleichende Faktor im Gesamtarrangement. Sie fungierte als Materialbasis für die weiter oben erwähnte Vorstellungsrepräsentanz – die Vorstellung innerhalb einer Vorstellung oder einen Zustand innerhalb einer Situation. Doch da Vorstellungsrepräsentanzen sich um eine Leerstelle herum aufbauen, stellt sich die Frage, was in diesem Fall die Leerstelle ausmachte. Was fehlte, war, kurz gesagt, die ontologische Präsenz der TeilnehmerInnen jenseits ihrer Repräsentation; das Fehlen jeder Abgrenzung zwischen TeilnehmerInnen und Publikum und darüber hinaus sogar zwischen Event und Repräsentation versetzte jede Präsentation in einen Zustand unendlicher Wiederholung in sich selbst, eben eine mise en abyme. Die realen Bedingungen des Kongresses und auch die imaginären Beziehungen der TeilnehmerInnen wurden dadurch in einer Endlosschleife wechselseitiger Abhängigkeit zusammengefasst, in der es keine Hierarchien gab – ein Phänomen, das durch das Vorhandensein der Leinwand, auf der es präsentiert wurde, erst ermöglicht wurde.

Und so kommen wir zur Frage nach dem Kunstcharakter.

Michael Fried, der hartnäckige Verfechter von Clement Greenbergs Modernismuskonzept, hat prominent die These aufgestellt, dass Kunstwerke dieser Art – die alle Kontextbedingungen ihrer physischen und psychologischen Präsentation in sich aufnehmen – die Negation der Kunst und damit den Beginn des Theaters bedeuten. (13) Fried bezog sich damit natürlich auf den phänomenologischen Aspekt des Minimalismus, demzufolge die Selbstwahrnehmung des Zuschauers oder der Zuschauerin in Konfrontation mit dem Kunstwerk dieses Werk überhaupt erst konstituiere, eine Situationsabhängigkeit, die andere Zweige der modernistischen bildenden Kunst zurückwiesen, die vielmehr das Anliegen verfolgten, den / die BetrachterIn vollständig aus dem Reich der ästhetischen Erfahrung zu verbannen. Doch genau in diesen allumfassenden Raum, einen Raum, der doppeldeutig zwischen der realen und der imaginären Gestalt der Dinge changiert, führt uns Bartanas JRMiP. Denn genau dort, in dem Bereich, den Fried vor langer Zeit eine ‘neue Theatergattung’ nannte, stößt Bartanas umfassendes Projekt and Europe will be stunned auf ein Höchstmaß dekonstruktivistischer Produktivität.

 

Flucht vor dem Realen

 

Durch diesen ‘Sprung’ im Spiegel der Repräsentation – hervorgebracht durch ein konkretes Happening, das zugleich auch eine imaginäre Situation war – gelangten im Hebbel am Ufer drei Ideologien in den öffentlichen Diskurs miteinander, um kollektiv einen unheimlichen Überschuss des Realen zu beseitigen: Andersartigkeit, Zionismus und Vergeben. (14) Wenn wir Slavoj Žižeks Interpretation der psychoanalytischen Funktion der Ideologie folgen, die auf Althussers Überlegungen aufbaut, begegnen wir einem weiteren Chiasmus. Ideologie ist kein falsches Bewusstsein der Realität; genauso wenig ist sie eine träumerische Illusion. Vielmehr muss die Realität selbst als ideologisch verstanden werden, denn es ist die Ideologie, die es uns ermöglicht, dem Realen – als der reinen Nichtigkeit – zu entfliehen und in das Reich des konventionellen Selbstbewusstseins zurückzukehren, kurzum die Symbolisierung. (15)

Dennoch bleibt stets ein Rest. Žižek nennt ihn den ‘Kern’ des Realen mit Bezug zu Lacans Begriff des Objekts klein a – dem schwer fassbaren Objekt ‘Grund des Begehrens’, das nicht mit einem erreichbaren (oder repräsentierbaren) Objekt verwechselt werden darf. Das Objekt klein a ist vielmehr der Platzhalter des ursprünglichen, ‘unmöglichen’ Objekts, ein Teil des Subjekts selbst, den es phantasmatisch als in der Welt der Repräsentation verloren erachtet. Dennoch kann dieses Objekt niemals wiedergewonnen werden, weil es nicht wirklich existiert, denn es gibt kein Selbstbewusstsein jenseits unserer Repräsentation in der Welt. Paradoxerweise ist es gerade die Unmöglichkeit der Rückgewinnung dieses ursprünglichen Objekts, was die fortgesetzte Aktivität der unbewussten Triebe und des bewussten Begehrens des Subjekts garantiert. Je weiter das Objekt klein a – der Grund des Begehrens – sich von ihm entfernt, desto mehr nimmt das Begehren des Subjekts zu; umgekehrt steigert sich die Angst des Subjekts in dem Maße, in dem das Objekt klein a sich ihm nähert. Das Objekt klein a ist der Kurier des Realen; wenn es sich dem Subjekt nähert, nähert sich ebenfalls die unterdrückte Nichtigkeit seines Realen von jenseits der unendlichen Wiederholungen in sich selbst. Und es ist genau diese Nichtigkeit, als eine ursprünglich unterdrückte Idee, die das bewusste Begehren des Subjekts darauf ausrichtet, etwas ontologisch Ganzes zu werden, unabhängig von seiner Repräsentation in der Welt. Objekt klein a der Rest der Nichtigkeit – und seine Sublimierung – die Ideologien des Selbst – bewegen sich in einer ständigen Wechselbewegung unablässig aufeinander zu und voneinander fort, es ist, um es mit Freuds Worten zu sagen, ein permanentes fort und da.

 

Was uns wieder zum Kongress führt.

 

Während der Ausführungen der Delegierten wurden immer neue Ideologien aufgeboten, um die freischwebende Zirkulation des Objekts klein a als Kern des Realen zu unterbinden. Der Grund bestand darin, dass Ideologie, als Symbolisierung des imaginären Begehrens, sich gut dazu eignete, die Distanz zwischen der Gründungsthese der JRMiP – ‘Wir wollen zurückkehren! Polen ist das Land unserer Sehnsucht, das Land unserer Väter und Vorväter’ – und dem unfassbaren Realen zu vergrößern, das diese Forderung hervorgebracht hatte – der sogenannten ‘Endlösung’ der ‘Judenfrage’. (16) Genauso steht die Literatur (la petite histoire), die nach Derridas Worten das Recht besitzt, zu sagen, was sie will, den metahistorischen Narrativen gegenüber (grand récit), die den Versuch unternehmen, die ‘Endlösung’ zu erklären – ein namenloses Ding jenseits jeder Vorstellung und Repräsentation.

Das Recht zu sagen, was man will, gab, im Kontext der JRMiP, den Anstoß zu kollektivem Genießen – Lacans Begriff für entfesselte ‘Lust’ jenseits des konventionellen imaginären Begehrens. Da Genießen mit den Ausschweifungen der Triebe und damit auch mit dem Realen in Verbindung steht, unterscheidet es sich stark vom Begehren, das ganz auf Identifikation beruht. In den Worten Jacques-Alain Millers ist ‘Begehren stets das Begehren, gesagt zu bekommen: ›Du bist dies oder jenes.‹’ (17) Im Gegensatz dazu kann Genießen am besten als eine Art von Lustschmerz beschrieben werden, da es keine Grenzen kennt und keine Schranken respektiert. Es verstärkt sich angesichts eines Anderen, das etwas Traumatisches, etwas Obszönes repräsentiert, das sich nicht in das Universum des Subjekts integrieren lässt. (18) Um also das Genießen der Delegierten zu dämpfen, das durch das (obszöne) Recht der anderen hervorgerufen wird, zu sagen, was sie wollen, wurden in den Verhandlungen des Kongresses immer wieder reinigende ideologische Phrasen vorgetragen. Aber auf jede reinigende Forderung folgte sofort eine neue Ausschweifung, die sich nicht in die Sphäre der symbolischen Identifikation der Subjekte integrieren ließ. Der ständige Wechsel solcher Forderungen – das abwechselnde Ansprechen von Begehren, dann wieder des Genießens – erzeugte den Pulsschlag des Kongresses. So wurde am ersten Tag die praktische Forderung erhoben, in Europa eine ‘Medienüberwachung zur Vorbeugung gegen die Ausbreitung rassistischer Ideologie’ einzurichten; dem wurde die surrealistische Forderung gegenübergestellt, ‘die Toten aller Länder zu exhumieren und jeweils im Nachbarland neu zu bestatten’. Am zweiten Tag stand der kulturpolitische Antrag, ‘Polen sollte 15 Prozent seines Jahreshaushalts der Kunst und Kultur widmen’, der unerfüllbaren Forderung, ‘Polen soll ein Anti-Konzentrations- und -Todeslager errichten’, gegenüber. Am dritten Tag wurde die symbolische Forderung nach ‘Anerkennung des Rückkehrrechts sowohl für jüdische wie nichtjüdische Personen’ der undenkbaren Forderung ‘Israel soll seinen jüdischen Charakter ablegen’ gegenübergestellt.

Und so entfalteten sich die dreitägigen Verhandlungen des Kongresses als Rede und Gegenrede von Worten des Begehrens und Worten des Genießens. Dieses Hin und Her war aus verschiedenen Gründen zu erwarten gewesen; unerwartet war jedoch, dass die Worte ein Phantom, das im Kern der JRMiP liegt, heraufbeschworen, ein Phantom, das nicht durch die Toten, sondern durch eine Lücke innerhalb der Bewegung geweckt wurde, die aus den Geheimnissen der anderen (19) bestand. Insofern deuteten diese Worte auf eine unaussprechliche Wahrheit – sowohl real wie imaginär – über die Ahnen der JRMiP.

 

Ein Gespenst in der Maschine

 

Um das Phantom, das während des Ersten Kongresses der JRMiP das Theater Hebbel am Ufer betrat, zu beschreiben, greife ich auf die folgende Fallstudie zurück:

In ‘Aufzeichnungen über das Phantom’ berichtet der Psychoanalytiker Nicolas Abraham von einem Patienten, der von einem Phantom heimgesucht wurde, das auf die uneheliche Geburt seines Vaters zurückging. Die illegitime Herkunft wurde bis zum Tod des Vaters von der Familie mithilfe einer komplizierten Fiktion verheimlicht: Der uneheliche Vater des Patienten entstamme einer europäischen Adelsfamilie. Indem er diese fiktive Abstammung seines Vaters bezeugte, internalisierte der Sohn unbewusst die Neurose der unehelichen Geburt, ohne selbst die Urszene, als Bastard abgestempelt zu werden, erlebt zu haben. Die Internalisierung offenbarte eine Lücke zwischen der Reaktionsbildung des Vaters (der Behauptung adliger anstelle von unehelicher Abstammung) und der Fortsetzung des neurotischen Verhaltens des Vaters durch den Sohn, die in irrationalen Ansprüchen und verbalen Entgleisungen des Sohnes zum Ausdruck kam. Abraham beschreibt, wie das Unbewusste des Vaters auf einen einzigen Gedanken gerichtet ist (der das Phantom hervorbringt):

‘Wenn meine Mutter mir nicht verheimlicht hätte, von welchem vornehmen Geliebten ich der Bastard bin, dann müsste ich meinen entwürdigenden Zustand als uneheliches Kind nicht verheimlichen.’ Wie wurde nun dieser im Unbewussten des Vaters so lebendige Gedanke ins Unbewusste des ältesten, von allen bevorzugten Sohnes transportiert, und wie konnte er dort, bis zur Wahnvorstellung gesteigert, verbleiben? Wenn man nämlich den Fall des Patienten von allen Seiten betrachtet, dann erscheint dieser nicht wie von einem eigenen Unbewussten beherrscht, sondern besessen vom Unbewussten eines anderen. (20)

Die Schwierigkeit bei der Analyse des Patienten liegt ‘in der Furcht davor, das Siegel eines strikt gewahrten elterlichen oder familiären Geheimnisses zu zerbrechen; eines Geheimnisses, dessen Wortlaut jedoch im Unbewussten eingeschrieben ist. Zum Schrecken vor der eigentlichen Überschreitung gesellt sich die Gefahr hinzu, die zwar fiktive, aber notwendige Integrität der betreffenden elterlichen Gestalt zu beschädigen.’ (21) Insofern verweist die Wiederkehr des Phantoms auf eine Lücke, eine zwar reale, jedoch unaussprechliche Tatsache, die in der Geschichte des Subjekts begraben liegt.

Auf gleiche Weise wird die JRMiP durch ein Phantom definiert, das sie heimsucht. Doch ist die JRMiP selbstreflexiv, wie der zu Beginn dieses Essays erwähnte Delegierte, denn sie wurde an der Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Unaussprechlichen gegründet. Folgerichtig ermutigt Bartana ihre Mitwirkenden, eben jene Struktur infrage zu stellen, die ihre Teilnahme erst ermöglicht, und so entsteht der ambivalente Charakter der JRMiP. Die Frage lautet also: Ist die JRMiP antizionistisch, wenn sie Millionen von Menschen dazu aufruft, Israel zu verlassen, oder ist sie zionistisch durch ihre Forderung, eine neue jüdische Heimat in Polen zu etablieren? Wie soll eigentlich die staatliche Souveränität beschaffen sein? Ahmt die JRMiP mit ihrem Aufruf für eine nationale Heimat faschistische Propaganda nach, oder ist sie aufgrund ihrer sozialistischen Ideale antifaschistisch? Bartana merkt dazu an: ‘Nationalismus ist eine fantasievolle manipulative Methode zur Erzeugung von Zusammengehörigkeitsgefühlen, und ich glaube, dass sich die JRMiP ihrer bedient. Aber ich kritisiere den Faschismus, selbst wenn ich Elemente verwende, deren Ursprung in der faschistischen Ästhetik liegt.’ (22) Diese Ambivalenz bereitet den Auftritt des Phantoms vor. Doch während sie es, wie in einer Séance, heraufbeschwört, befragt die JRMiP die ambivalente Beziehung ihrer TeilnehmerInnen zu den unaussprechlichen Geheimnissen der Vergangenheit, indem sie diese Ambivalenz ans Tageslicht bringt.

Als Abrahams Phantom das Theater betreten hatte, erzeugte es im Kongress einen kollektiven Spuk. Man kann es deshalb auch als kulturelles Phänomen beschreiben, das verdrängte Geheimnisse von Generation zu Generation weitergibt, von einem Unbewussten zum anderen, wodurch die Ambivalenz von bewussten ideologischen Formierungen und darauf folgenden Schüben des Genießens hervorgerufen wird. In diesem Fall bildet sich das Phantom ähnlich wie ein Automaton im Unbewussten derjenigen, die es ererbt haben; es ‘bezieht sich auf die dem Patienten eigene Topik und tritt auf wie ein Bauchredner, ein Fremder’. (23)

Man kann also sagen, dass die TeilnehmerInnen des Kongresses wie ‘Kinder’ das neurotische Symptom eines verdrängten Traumas geerbt haben, das nicht das ihre ist, auch wenn sie es in ihrem Bewusstsein zu rekonstruieren versuchen, wodurch sie jedoch lediglich das verdrängte Geheimnis im Unbewussten ihrer verstorbenen Vorfahren verdecken. Dieses Geheimnis erzeugt die Lücke, die Abraham benannt hat. Erstaunlicherweise stieg am dritten Tag des Kongresses ein solches Phantom aus der Lücke hervor und stieß uns auf einige Widersprüche in der Urszene des Staates Israel, sowohl real wie imaginär.

 

Auftritt Theodor Herzl.

 

Herzl, der Großvater des modernen jüdischen Staats, konvertierte aufgrund des erschreckenden Ausmaßes an Antisemitismus, das im Verlauf der Dreyfus-Affäre in Frankreich sichtbar wurde, zum Zionismus. (24) 1896 verfasste er das Manifest Der Judenstaat, in dem er seine Vision eines Nationalstaats für das jüdische Volk detailliert entfaltete, von der Organisation eines zionistischen Kongresses bis zur Einrichtung von Nationalstiftungen, Schulen, einer Fahne und sogar einer Hymne. Herzls Vorstellung zufolge sollte schließlich eine ‘Jewish Company’ ein Territorium ‘freikaufen’; im Unterschied zur politischen ‘Society of Jews’ besorgt sie ‘die Liquidierung aller Vermögensinteressen der abziehenden Juden und organisiert im neuen Lande den wirtschaftlichen Verkehr’. (25) Doch trotz dieser praktischen Überlegungen war Herzls Vision utopisch. Aus der Perspektive eines assimilierten europäischen Juden konzipiert, sollte der entworfene Staat weder theokratische Züge tragen, noch sollte eine einheitliche Sprache, wie zum Beispiel Hebräisch, gesprochen werden. Stattdessen vertrat er die Auffassung, ‘Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist’, (26) wie es in der Schweiz der Fall war. Und doch war Herzls Traum eines multikulturellen Staats paradoxerweise stets im militanten deutschen Nationalismus verwurzelt. In seinem Tagebuch notierte er, ‘Übrigens dürfte, par la force des choses, deutsche Sprache Amtssprache werden. Judendeutsch!’ (27) In einem Schreiben an den deutschjüdischen Philanthropen Baron de Hirsch mit der Bitte, den jüdischen Staat finanziell zu unterstützen, argumentierte er:

Für eine Fahne leben und sterben sie; es ist sogar das Einzige, wofür sie in Massen zu sterben bereit sind, wenn man sie dazu erzieht. Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes [...] macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das Deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern. ‘ (28)

Herzl ging so weit, eine solche Staatsgründung nach den Maßstäben deutscher Kultur- und Staatstradition zur moralischen Pflicht zu erklären. Wenn sich der jüdische Staat durch seinen ewigen ‘Willen zum Guten’ definiere, dann resultiere er dialektisch aus dem europäischen Antisemitismus: ‘So enthält wohl auch der Antisemitismus den göttlichen Willen zum Guten, weil er uns zusammendrängt, im Druck einig, und durch die Einigkeit frei machen wird.’ (29) So wurde schon zu Beginn das Saatkorn eines Geheimnisses gesät, das über Generationen hinweg weitergegeben werden sollte: die paradoxe Identifikation des eigentlichen Architekten des jüdischen Staates mit seinem Herkunftsland, das wenig später sein Volk als extimes Objekt ausstoßen würde.

Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29. November 1947 die Annahme eines Plans zur Teilung des palästinensischen Mandatsgebiets empfahl, war der nationalistisch geprägte Zionismus Herzls tatsächlich zur herrschenden Ideologie geworden, wie Hannah Arendt schon 1946 feststellte. (30) Als dann am 14. Mai 1948 David Ben-Gurion, Vorsitzender des Exekutivrats der Zionistischen Weltorganisation, einen unabhängigen jüdischen Staat proklamierte, den Staat Israel, begann sofort die ‘Erziehung’, von der Herzl gesprochen hatte. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellte der Prozess gegen Adolf Eichmann dar, der 1962 in Jerusalem stattfand und den Israelis – und der Welt – die Schrecken des Holocausts vor Augen führte. Dieses spektakuläre Ereignis diente später als ideologische Rechtfertigung des Sechstagekriegs von 1967, als Israel die bis heute besetzten Gebiete in Gaza und im Westjordanland eroberte. (31)

Hannah Arendt sieht in ihrer Berichterstattung über den Prozess (wieder einmal) voraus, dass die im Laufe des Prozesses entwickelte Rhetorik das ideologische Gerüst der Rechtfertigung des israelischen Expansionismus darstellt. (32)  Doch nicht das war der Grund, der ihr Buch zum Gegenstand einer internationalen Kontroverse innerhalb des jüdischen Establishments machte. Anstoß erregte vielmehr ihre Behauptung, das Wesen des Totalitarismus des Dritten Reichs sei die ‘Banalität des Bösen’, die weit verbreitete Haltung kollektiver bürokratischer Gedankenlosigkeit. Mehr noch, zum Schrecken ihres Mentors Gershom Scholem behauptete sie, jedermann sei zu einer solchen Haltung von Gedankenlosigkeit und Mitschuld fähig, auch die jüdischen Eliten in Europa während der ‘Endlösung’ durch das Dritte Reich und später die Mitglieder der zionistischen Bewegung. (33) Der Gedanke, die zionistische Mission des modernen israelischen Staates – nämlich die Befreiung und Emanzipation des jüdischen Volkes durch nationalistische Legitimation – sei vielleicht das Erbe der internalisierten bürokratischen Logik des totalitären deutschen Nationalismus, war in Scholems Augen eine unaussprechliche Ketzerei.

Falls Israel jedoch, im übertragenen oder wörtlichen Sinn, ein Kind Deutschlands und Europas ist, dann steht der moderne jüdische Staat in einer Wechselbeziehung mit den Dämonen sowohl des Kolonialismus als auch des Totalitarismus. Das wissen wir bereits. So unbewusst wie das Phantom bleibt jedoch ein Aspekt, den das Subjekt nicht zur Kenntnis nehmen will: Nationalsozialismus und Zionismus stehen weder in einer dialektischen Beziehung zueinander – erst das eine, dann das andere –, noch sind beide ins eins zu setzen, wie Scholem die Formulierung Arendts missverstand. Vielmehr erschaffen diese Ideologien sich gegenseitig, in ständiger Konfrontation mit dem anderen, und sind insofern stets nur relativ autonom gewesen. Die militant revisionistische Logik, die die israelische Okkupation der 1967 eroberten Gebiete legitimiert, ist ein spukendes Familiengeheimnis, ein Geheimnis, das nicht ohne Kontroversen und ohne Folgen gelüftet werden kann – nicht, ohne es zu genießen.

 

Das bringt uns zurück zur JRMiP.

 

Als Arendt das ambivalente Verhältnis des Zionismus zum deutschen Nationalismus dekonstruierte, wurde ihr der Status einer Analystin abgesprochen, stattdessen erklärte man sie zu einer missratenen Tochter des jüdischen Volkes und stieß sie zur Strafe für das Aussprechen des Unaussprechlichen aus der Gemeinschaft aus. Bartana hat keine Angst davor, die konfliktträchtige Sphäre zu betreten, in der Arendt lebte. Vielmehr aktiviert sie diese Sphäre für ein kollektives ethisches Projekt, das das Ziel verfolgt, sich selbstreflexiv durch die Geheimnisse der Vergangenheit hindurchzuarbeiten. Dieses ethische Projekt wird – als Plattform für ästhetisches Engagement und politisches Handeln – fortgeführt: in weiteren Kapiteln der Jewish Renaissance Movement in Poland.

 

Juli Carson ist Juniorprofessorin an der Kunstakademie der University of California, Irvine, wo sie den Magisterstudiengang Kunstkritik und Kuratorisches Wissen betreut und das Kunstmuseum der Universität leitet. Neben Artikeln über Konzeptkunst und Psychoanalyse für Art Journal, Documents, October, Texte zur Kunst und X-Tra sowie zahlreiche internationale Anthologien und Kataloge sind von ihr zwei Bücher erschienen: Exil des Imaginären: Politik, Ästhetik, Liebe (Wien: Generali Foundation, 2007) und The Limits of Representation: Psychoanalysis and Critical Aesthetics (Buenos Aires: Letra Viva Press, 2011). Ihr neues Buch, The Conceptual Unconscious: A Poetics of Critique erscheint demnächst bei PoLYpeN.

 

This article was published in the exhibition catalogue on the occasion of 'If you will it, it is not a dream / Wenn Ihr wollt, ist es kein Traum' at the Secession in Vienna, Austria (2012).

 

  1. Charles Esche in seiner Rede als Vorsitzender des Ersten Internationalen Kongresses der Jewish Renaissance Movement in Poland in Berlin am 13. Mai 2012.
  2. Nicolas Abraham, ‘Aufzeichnungen über das Phantom’, in: Psyche, 46 (1991), S. 692.
  3. Die von Artur Żmijewski und Joanna Warsza kuratierte 7. Berlin Biennale inszenierte verschiedene partizipative Projekte. Khaled Jarrar z. B. forderte PassantInnen dazu auf, ihre Reisepässe am Checkpoint Charlie mit ‘State of Palestine’ stempeln zu lassen; Łukasz Surowiec pflanzte über ganz Berlin verstreut 320 Birkenaus der unmittelbaren Umgebung des Konzentrationslagers Auschwitz­ Birkenau.
  4. Wohlgemerkt, selbst nachdem der Antrag des Delegierten abgelehnt worden war, nahm er bis zu dessen Ende am Kongress teil.
  5. ‘The Jewish Renaissance 
Movement in Poland: A 
Manifesto’, in: Sebastian Cichocki, Galit Eilat (Hg.), A Cookbook for Political Imagination, Berlin: Sternberg Press, 2011, S. 120.
  6. Alenka ZupanŻiŻ, ‘The Fifth Condition’, in: Peter Hallward (Hg.), Think Again: Alain Badiou and the Future
of Philosophy, London: Continuum, 2004, S. 199.
  7. Unterlagen für den Ersten Internationalen Kongress der Jewish Renaissance Movement in Poland in Berlin, 11. bis 13. Mai 2012, Hebbel am Ufer – HAU 1.
  8. Jacques Derrida, ‘Remarks on Deconstruction and Pragmatism’, in: Chantal Mouffe (Hg.), Deconstruction and Pragmatism: Simon Critchley, Jacques Derrida, Ernesto Laclau & Richard Rorty, New York: Routledge, 1996, S. 82.
  9. Unterlagen JRMiP. Anmerkung der Übersetzer: Der Begriff ‘Uncanny Valley’ (dt. ‘Unheimliches Tal’) wurde 1970 von Masahiro Mori, einem japanischen Robotiker, geprägt. Er beschreibt das Phänomen, dass die Akzeptanz von technisch simuliertem, nonverbalem Verhalten durch ZuschauerInnen vom Realitätsgehalt der vorgestellten Träger (Roboter, Avatare usw.) abhängt, jedoch nicht stetig linear mit der Menschenähnlichkeit der Figur steigt, sondern innerhalb einer bestimmten Spanne einen starken Einbruch verzeichnet.
  10. Dieser Satz ist von Althussers grundlegender These abgeleitet: ‘Die Ideologie ›repräsentiert‹ das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen.’ Louis Althusser, ‘Ideology and State’, in: Ben Brewster (Hg.), Lenin and Philosophy, New York: Monthly
 Review Press, 1971,
S. 162, 164.
  11. Damit folgte sie Allan Kaprows Axiom, in einem Happening Zuschauerräume vollständig zu eliminieren. ‘Auf diese Weise können alle Bestandteile zu einem Ganzen zusammengeführt werden: Menschen, Raum, Art und Beschaffenheit der Umgebung, Zeit’, folgerte er. So könnten die beiden Gruppen, die am Happening teilnehmen – Publikum und Mitwirkende –, sich gegenseitig spiegeln, die Realität des einen sei fest verbunden mit der des anderen. Siehe Allan Kaprow, ‘Assemblages, Environments and Happenings’, in: Charles Harrison, Paul Woods (Hg.), Art in Theory: 1900–1990, Cambridge: Blackwell Press, 1995, S. 708.
  12. Ein Delegierter im Parkett – wo einige TeilnehmerInnen sich spontan bereiterklärt hatten zu dolmetschen – bot an, seinen Platz mit einer Zuschauerin auf der Empore zu tauschen, die sich, weil sie des Englischen nicht mächtig sei (der Lingua franca des Kongresses), in den Überlegungen und Abstimmungen nicht angemessen vertreten fühle.
  13. Siehe Michael Fried, ‘Art and Objecthood’, in: Gregory Battcock (Hg.), Minimal Art: A Critical Anthology, New York: E. P. Dutton, 1968, S. 25. Ich danke Sabeth Buchmann für den Hinweis auf die Bedeutung dieses Ansatzes zum Verständnis von Bartanas Arbeit.
  14. ‘Überschuss des Realen’ ist ein Begriff Slavoj Žižeks. Siehe Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, New York: Verso, 1992, S. 3.
  15. Ebd., S. 21, 45.
  16. Die Verwendung des Begriffs ‘Judenfrage’ ist seit 1750 nachweisbar, mit verstärkter antisemitischer Tendenz seit 1860, und sie kulminierte schließlich im nationalsozialistischen Verständnis als Konzept zunächst für
die Massendeportation von Jüdinnen und Juden aus Deutschland – durch Johann Leers und Achim Gercke – und schließlich für die systematische Auslöschung des jüdischen Volkes – durch Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann und andere auf der Wannsee­Konferenz
am 20. Jänner 1942.
  17. Jacques­Alain Miller, ‘Commentary of Lacan’s Text’, in: Bruce Fink (Hg.), Reading Seminars I and II: Lacan’s Return to Freud, Albany: SUNY Press, 1996, S. 424.
  18. Slavoj Žižek, The Abyss of Freedom/Ages of the World, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 2000, S. 25.
  19. Ich übernehme diese Formulierung aus Nicolas Abrahams ‘Aufzeichnungen über das Phantom’ (s. Anm. 2).
  20. Ebd., S. 693 f.
  21. Ebd., S. 695.
  22. Yael Bartana in: ART iT, http://www.art­it.asia/u/ admin_ed_feature_e/ JZcXnvrH5NCs2QyuOEGd [9.11.2012]
  23. Abraham, ‘Aufzeichnungen über das Phantom’
(s. Anm. 2), S. 694.
  24. Alfred Dreyfus, ein französischer Offizier
mit jüdisch­elsässischem Hintergrund, wurde fälschlich des Verrats militärischer Geheimnisse an Deutschland angeklagt. Sein Prozess und die Verurteilung lösten 1894 einen internationalen Skandal aus. Dreyfus wurde 1906 rehabilitiert, doch der Skandal hatte die Fronten bezüglich der ‘Jüdischen Frage’ in Frankreich deutlich verhärtet.
  25. Theodor Herzl, Der Judenstaat, Zürich: Manesse Verlag, 2006, S. 36.
  26. Ebd., S. 99.
  27. Theodor Herzl, Theodor Herzls Tagebücher 1895– 1904, 1. Band, Berlin: Jüdischer Verlag, 1922, S. 63.
  28. Ebd., S. 33 f.
  29. Ebd., S. 362.
  30. Hannah Arendt, ‘The Jewish State: Fifty Years After. Where Have Herzl’s Politics Led?’, in: The Jew as Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age, New York: Grove Press, 1978, S. 164.
  31. Idith Zertal beschreibt die Folgen des Eichmann­Prozesses so: ‘Die Duplikation der Vernichtungssituation des europäischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs und ihre Verpflanzung in die nahöstliche Realität zu Beginn der sechziger Jahre – so schwer und so kritisch sie für Israel auch gewesen sein mag [...] – erzeugte nicht nur den trügerischen Anschein der unmittelbar drohenden Gefahr einer bevorstehenden Massenvernichtung, sondern entstellte auf tragische Art die historische Wirklichkeit des Holocaust, verharmloste die Gräueltaten, die die Nazis an Juden und anderen verübt hatten, führte zu einer furchtbaren Entwertung des Leids und des Todes der Opfer und der Trauer der Überlebenden und bewirkte zudem eine Dämonisierung der Araber und ihrer Führer.’ Sie argumentiert, diese Entwertung sei die ideologische Saat der Angst, die gesät wurde, um den Sechstagekrieg und letztendlich auch die rücksichtslose Verteidigung von Israel als jüdischem Staat zu legitimieren. Siehe dazu ihren Essay Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit, Göttingen: Wallstein Verlag, 2003, S. 162.
  32. Arendt argumentierte, der Prozess folge der ideologischen Zielsetzung von Premierminister Ben­Gurion: ‘Die Juden in der Diaspora wiederum sollten sich daran erinnern, dass das Judentum ›seit viertausend Jahren mit seinen geistigen Schöpfungen und seinen sittlichen Forderungen, seinen messianischen Zielen‹ einer ›feindlichen Welt‹ gegenübergestanden und der Verfall des jüdischen Volkes in der Diaspora damit geendet habe, dass sie schließlich wie Schafe in den Tod gingen, und dass erst die Errichtung eines jüdischen Staates es Juden ermöglicht habe, sich zur Wehr zu setzen und zu kämpfen – im Unabhängigkeitskrieg, im Suez­Abenteuer, in den fast täglichen Zwischenfällen an Israels friedlosen Grenzen.’ Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, München: Piper, 2011, S. 77 f.
  33. Die unaussprechliche Frage, die Arendt stellte, war so obszön, dass Scholem sie nur verdrängen konnte: ‘Die Frage, die ich aufgeworfen habe, ist die der Kooperation jüdischer Funktionäre, von denen man nicht sagen kann, dass sie einfach Verräter waren.’ Hannah Arendt/ Gershom Scholem, Der Briefwechsel, Berlin: Jüdischer Verlag, 2010, S. 441.

 

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